Status: Nicht angemeldet

Wahrnehmung in der Diagnose

Wahrnehmung in der Diagnose

23.01.2003 | von Martin Mittwede Das diagnostische System des Ayurveda ist komplex, da es auf der Anwendung verschiedener Wahrnehmungskategorien beruht, die miteinander kombiniert werden können.

  Im Rahmen der typologischen Betrachtungen werden wir darauf näher eingehen und an dieser Stelle nur die Grundzüge darstellen.
Für die praktische Untersuchung galten unterschiedliche Schemata; erwähnt werden insbesondere:

• Sehen, Berührung und Befragung,(56)
• Benutzung aller 5 Sinne und Befragung.

Bezüglich der Sinneswahrnehmungen gibt die SuS Beispiele: das Hören des durch vata angeregten Blutes; das Fühlen der Hitze und Kühle des Körpers sowie der Konsistenz der Haut; das Sehen der allgemeinen Statur und Haltung, der Körperkraft und Farbveränderungen usw.; das Schmecken bei prameha(Harn-)Störungen; das Riechen bei einer Wunde. Die Befragung umfaßt räumliche, zeitliche und soziale (jati) Umstände des Patienten, Neigungen, Schmerzen, Stärke, Verdauungskraft, etc.(57)
 

Damit wird klar ausgesagt, daß ein direkter Kontakt zum Patienten die Grundlage des diagnostischen Prozesses darstellt. Der Zugang zum Patienten ist ein individueller, und es kommt darauf an, diese individuelle Disposition genau zu betrachten und in allen Aspekten anzuschauen:

„Aufgrund der Verschiedenheit der Körper (-konstitutionen) und aufgrund der Instabilität gibt es kein (feststehendes) Maß für die dosas, dhatus und malas. " (58)

Der Arzt hat es also immer wieder mit neuen Patienten und neuen Situationen zu tun, darf dabei aber nicht in die Routine kommen, ähnliche Fälle gleich zu klassifizieren; vielmehr soll er sich der Einmaligkeit eines jeden situativen Zusammenhanges bewußt sein. Zu diesem In-Augenschein-Nehmen treten im Hinblick auf therapeutische Gegebenheiten im Rahmen der umfassenden Betrachtung (yukti) eine Vielzahl von Faktoren:

„In bezug auf Ort, Zeit, Maß, Angemessenheit oder Nichtangemessenheit kann die richtige Anwendung derselben in einem Fall heilsam sein, im anderen Fall (d. h. bei nicht richtiger Anwendung) (schädlich) sein. " (59)

Auch genügt es nicht, die allgemeinen Regeln für die medizinische Verschreibung zu kennen:

„Der Arzt, der die Indikationen allein kennt und dementsprechend behandelt, ohne die Einflüsse von Ort usw. zu berücksichtigen, geht fehl; denn die Unterschiede in bezug auf Alter, Kraft und Körper(-konstitution) werden für zahlreich gehalten. "(60)

Der Heilerfolg hängt also nicht allein von der Auswahl eines Mittels ab. Vielmehr geht es um eine Gesamtwahrnehmung der Person und aller Umstände, die diese betreffen. Im Rahmen der Diagnose ist eine solche Analyse durchzuführen und dementsprechend die Behandlung zu strukturieren.

Es geht auch nicht nur um die isolierte Betrachtung eines einzelnen Krankheitsbildes, sondern um das Erkennen der zugrundeliegenden Gesamtbefindlichkeit eines Menschen; dies wird im Rahmen der dosa-Theorie genauer ausgeführt:

„Wer (als Arzt) den Namen einer Krankheit nicht kennt, möge nie verlegen sein; denn in bezug auf die Namen aller Krankheiten gibt es keine feststehende Basis. Es ist eben ein dosa, der durch verschiedenartige Faktoren erregt worden ist, und nachdem er zu anderen Standorten hingelangt ist, verursacht er viele krankhafte Veränderungen. "(61)

Aus dem Text spricht deutlich das Verständnis, daß es einen Unterschied zwischen dem Namen einer Erkrankung, der von dem spezifischen, deutlich sichtbaren Krankheitsbild ausgeht, und dem Verständnis der dosa-Lehre gibt, die die Gesamtgestimmtheit erfaßt. Es reicht für den Behandelnden eben nicht aus, wenn er den Namen der manifest gewordenen Erkrankung nennen kann. Vielmehr muß er wissen, auf welcher Grundlage diese beruht, um von dort aus mit seiner Tätigkeit zu wirken:

„Deshalb möge man zügig den Behandlungsplan entwickeln, nachdem man die die Krankheit konstituierenden Grundprinzipien, die veränderten Standorte (der dosas) und die verschiedenen (Einfluß-)faktoren unterscheidend wahrgenommen hat. Die sehr feinen Verhältnisse betrachtend, die jeweils einzeln das gestörte Körperprinzip, den Ort, die Zeit, das Verdauungsfeuer, die individuelle Konstitution, den allgemeinen Gesundheitszustand, die psychische Disposition, die Neigung (d. h. das Empfinden, was von dem Patienten als zuträglich empfunden wird) und auch den Ernährungszustand betreffen, strauchelt man als jemand, der bei der Bestimmung der dosas und der Heilmittel von diesen (Faktoren) ausgeht, bei der Behandlung unter keinen Umständen. "(62) Die Analyse, die hier dargestellt wird, steht modernen medizinischen Diagnosemethoden, bei denen es gerade um die genaue Erfassung von quantifizierbaren Befunden, Erregern etc. geht, fern.

Sie findet aber ihre Parallele in naturheilkundlichen Systemen, speziell der Homöopathie:

„Der vorurtheillose Beobachter, - die Nichtigkeit übersinnlicher Ergrübelungen kennend, die sich in der Erfahrung nicht nachweisen lassen, - nimmt, auch wenn er der scharfsinnigste ist, an jeder einzelnen Krankheit nichts, als äußerlich durch die Sinne erkennbare Veränderungen im Befinden des Leibes und der Seele, Krankheitszeichen, Zufalle, Symptome wahr, das ist, Abweichungen vom gesunden, ehemaligen Zustande des jetzt Kranken, die dieser selbst fühlt, die die Umstehenden an ihm wahrnehmen, und die der Arzt an ihm beobachtet. Alle diese wahrnehmbaren Zeichen repräsentieren die Krankheit in ihrem ganzen Umfange, das ist, sie bilden zusammen die wahre und einzig denkbare Gestalt der Krankheit. "(63)

Eine homöopathisch orientierte Anamnese umfaßt möglichst vollständig die gesamte Krankengeschichte des Patienten, dessen familiäres und soziales Umfeld, Veränderungen der Befindlichkeit bezogen auf Tages- und Jahreszeiten, seine Reaktionen auf Umwelteinflüsse, Einfluß verschiedener Aktivitäten und Körperpositionen, psychische Disposition usw. (64)

Es wird also wie im klassischen Ayurveda auf eine Fülle von Faktoren geachtet, die oberflächlich betrachtet kaum etwas mit dem Krankheitsbild zu tun haben, die aber von beiden Systemen für relevant gehalten werden.

In der umfassenden Betrachtung, wie sie im Rahmen der ayurvedischen Diagnose vollzogen wird, zeigt sich die praktische Anwendung des Erkenntnismittels Berücksichtigung aller Einflüsse (yukti), welches wir bereits als spezifisch für die Caraka-Tradition kennengelernt haben.

Auch der Begriff der Untersuchung selbst - pariksa - weist auf diesen Aspekt hin, setzt er sich doch aus iks = sehen, wahrnehmen und pari = rings, ringsum zusammen.

Will man zu einer abschließenden Beurteilung kommen, inwieweit eine solche beobachtende, phänomenologische Diagnose zu verläßlichen Ergebnissen führt, wird man sehr vorsichtig zu Werke gehen müssen. In jedem Fall wäre es voreilig, der modernen Diagnoseform von vornherein einen größeren Stellenwert beizumessen .(65)


(56) AHS 1.1.22 ab:
darsanasparsanaprasnaih pariksate roginam I Zur Diagnose allgemein vgl. Mazars (1978, 56 ff); auch Ackerknecht (1986, 38) betont die Differenziertheit der Diagnose im Ayurveda. (57) Vgl. dazu SuS 1.10.4 f., wo das Dreierschema der Diagnose zitiert und definitiv abgelehnt wird.
Zur differenzierten Betrachtung von Einzelaspekten des Behandlungsprozesses vgl. CarS 3.8.68 ff.; diese Abschnitte enthalten eine Fülle von Einzelfaktoren für eine genaue Diagnose, die unter verschiedenen Gesichtspunkten durchgeführt werden kann. Die in der späteren Zeit etablierte Systematik gibt Kurup (1983, 53): 1. Puls, 2. Urin, 3. Faeces, 4. Zunge, 5. Auge, 6. Hören, 7. Berühren, 8. Statur, Körperbau (akrti).
(58) SuS 1.15.37:
vailaksanyac chartranam asthayitvat tathaiva ca I dosadhatumalanam tu parimanam na vidyate II 37 II (59) CarS 6.30.293: desakalapramananam satmyasatmyasya caiva hi I samyagyogo*nyatha hy esam pathyam apy anyatha bhavet II 293 II
(60) CarS 6.30.320 cd-321 ab:
yogair eva cikitsan hi desaddyajno *paradhyati II 320 II vayobalasariradibheda hi bahavo matah I
(61) AHS 1.12.64-65:
vikaranamakusalo na jihriyat kadacana I
na hi sarvavikaranam namato `sti dhruva sthitih II 64 II
sa eva kupito dosah samutthanavisesatah I
sthanantarani ca prapya vikaran kurute bahun II 65 II
Vgl. zu dieser Textstelle auch Das (1992, 161). Gleichzeitig wird natürlich eine genaue Diagnose angestrebt; vgl. CarS 2.1.6:
tasyopalabdhir nidanapurvarupalingopasayasampraptitah.
„Kenntnis einer (Krankheit) (erlangt man) auf Grund der Ätiologie, der Vorstadien, der Symptome, der Vorlieben (des Patienten) und des Ausbruchs (der Krankheit). "
(62) AHS 1.12.66-68:
tasmad vikaraprakrtir adhisthanantarani ca I
buddhva hetuvisesams ca sighram kuryad upakramam II 66 II
dusyam desam balam kalam analam prakrtim vayah I
sattvam satmyam tathaharam avasthas ca prthag vidhah II 67 II
suksmasuksmah samiksyaisam dosausadhinirupane I
yo vartate cikitsayam na sa skhalati jatucit II 68 II
(63) Hahnemann (Ausgabe 1987, 65).
(64) Vgl. Dorcsi (1970, 53 ff).
( 65) Vgl. Schipperges (1983, 45).

Aus "Der Ayurveda" von Martin Mittwede, mit freundlicher Genehmigung des Haug Verlags, Copyright beim Haug Verlag, hier das Buch bestellen


Cookie Consent mit Real Cookie Banner