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Ralph Steuernagel, HP - Akademie für Komplementärmedizin

30.07.2006 |

1. Wie würden Sie die Abgrenzung von medizinischem Ayurveda zu Wellness definieren?
Die Trennung von Ayurveda in „Medizin“- und „Wellness“-Sektoren wurde von den Anbietern vorgenommen, denen aufgrund rechtlicher Bestimmungen die Ausübung der Heilkunde und damit Diagnostik und Therapie von Patienten untersagt ist. Der Begriff „Wellness“ ist in den letzten Jahren leider stark belastet worden, da sich hinter ihm immer mehr Anbieter mit unseriösen und nicht fundierten Programmen verstecken. Aus der Notwendigkeit einer klaren Abgrenzung medizinisch wissenschaftlicher Angebote von inkompetenten „Wellness“-Anbietern entwickelte sich die Tendenz einer künstlichen Trennung von „Medizin“ und „Wellness“. Wir verstehen Wellness hingegen wissenschaftlich als Grundlage psychosozialer Gesundheit und individuellen Wohlbefindens – dies sollte eigentlich auch das Ziel aller medizinischen Bestrebungen sein. Jeder Mensch und jedes Volk entwickelt eine eigene Definition von Wellness. Die Übernahme von Verantwortung für die Qualität des eigenen Lebens, bewußte Entscheidung über die Adoption einer gesunden Lebensführung, Entwicklung einer geistigen Einstellung / Lebensphilosophie und Definition von Grundprinzipien stellen Kern-Kriterien von Wellness dar.

2. Wie sehen Sie die Rolle des Ayurveda-Arztes und Heilpraktikers gegenüber dem Patienten? Welches Selbstverständnis zeichnet den Arzt oder HP aus
- aus Sicht des Ayurveda
- aus eigener Sicht

Der klassische Ayurveda beschreibt vier Glieder einer erfolgreichen Behandlung: Arzt, Patient, Schwester bzw. Assistenten und Heilmittel. Nur die effektive Zusammenarbeit dieser vier Glieder ermöglicht therapeutische Resultate. Aus unserer Sicht ist die Bereitschaft zur Veränderung und Übernahme von Selbstverantwortung durch den Patienten ein weiterer essentieller Faktor. Der Arzt untersucht, diagnostiziert, verordnet, berät und begleitet – der Patient handelt. Um die „Selbsthilfe-Kompetenz“ zu steigern, legen wir größten Wert auf Verständnis der Zusammenhänge und nehmen uns daher Zeit für Erklärungen und Schulung. Erst wenn der Patient seinen individuellen Gesundheitszustand in einfachen Worten zusammenhängend erfaßt hat, beginnen die Glieder der Behandlung effektiv zu wirken. Wir arbeiten als Team und Partner und geben das klassisch hierarchisierte Arzt-Patient-Verhältnis zugunsten einer gemeinsamen Zielsetzung auf.

3. Welche Rolle spielt Ayurveda im westlichen Gesundheitssystem heute und zukünftig? Welche Risiken und Chancen gibt es? Gibt es Unterstützung oder Hindernisse, sich als Mediziner oder HP mit Ayurveda auseinander zu setzen?
Die seit Jahren wachsende Unzufriedenheit und Skepsis vieler Patienten gegenüber der modernen Medizin resultiert aus der zunehmenden Ratlosigkeit in der Behandlung schwer greifbarer Beschwerden. Die heutige naturwissenschaftliche Abwendung von der Humoralpathologie, die das gestörte Milieu im Körper als Ursache für Krankheit ansieht, hin zum zellularpathologischen Denken läßt traditionellen Methoden der Erfahrungsheilkunde kaum die Möglichkeit, nachhaltig wirken zu können. Durch traditionelle wissenschaftliche Diagnoseverfahren aus Asien und Europa lassen sich moderne klinische Untersuchungen weiter differenzieren, was zu einer individuelleren Behandlung führt. Schließlich darf nicht nur die Krankheit das entscheidende Kriterium für oder gegen eine Therapieform sein, die konstitutionelle Grundlage und das Milieu des Erkrankten spielen eine gleichwertige Rolle. Störungen ohne moderne „Namensgebung“ finden durch traditionelle Systeme wie Ayurveda wieder Behandlungsmöglichkeiten. Es ist unser Bestreben, diese Lehre zu entmystifizieren und für jedermann leicht verständlich und anwendbar zu machen. Besonderen Wert legen wir auf die Umsetzbarkeit der jeweiligen Empfehlungen in den modernen Arbeitsalltag unter Berücksichtigung individueller sozialer und familiärer Strukturen. Extreme Vorstellungen oder Antipathien moderner Medizin gegenüber lehnen wir kategorisch ab – vielmehr kooperieren wir mit den Kollegen aus der schulwissenschaftlichen Medizin zum Wohle des Patienten. Die ablehnende Haltung der modernen Mediziner gegenüber ayurvedischen Anbietern resultiert zumeist aus der Tatsache mangelhafter medizinischer Grundkenntnisse – daher raten wir allen Ayurveda-Begeisterten, das Studium der modernen Medizin als Grundlage nicht zu vernachlässigen.

4. Gibt es Krankheitsbilder, die prädestiniert sind für die Behandlung durch Ayurveda und welche?
Die Therapiemöglichkeiten der ayurvedischen Medizin erstrecken sich vorwiegend auf chronische und funktionelle Krankheitsbilder und setzen kausal an den Ursprüngen unzuträglicher Ernährung und Lebensführung an. Besonders effektiv wirken ayurvedische Therapiemaßnahmen bei folgenden Erkrankungen:

GASTROINTESTINALE ERKRANKUNGEN
Stomatitis, dyspeptische Beschwerden, Reizmagen, Refluxerkrankungen, chronische Gastritis, peptische und duodenale Ulcera, Malabsorptionssyndrome, Colon irritabile, Obstipation, Diarrhoe, chronische Darmentzündungen (Mb. Crohn, Colitis ulcerosa), Darmmykosen (bsp. Candidose), Hämorrhoidalbeschwerden
VERDAUUNGSDRÜSEN
Exokrine Pancreasinsuffizienz
RESPIRATORISCHE ERKRANKUNGEN
allergische & chronische Rhinitis und Sinusitis, Asthma bronchiale, chronische Bronchitis
CARDIOVASKULÄRE ERKRANKUNGEN
Hyper- und Hypotonie unterschiedlicher Genese, funktionelle Rhythmusstörungen
UROGENITALE ERKRANKUNGEN
Entzündliche Erkrankungen der ableitenden Harnwege
GYNÄKOLOGIE
Mensisunregelmäßigkeiten, prämenstruelles Syndrom, Dys- / Hypo- / Hypermenorrhoe, klimakterische Beschwerden, chronische Mastopathie, chronischer Fluor vaginalis
DERMATOLOGIE
Akne vulgaris, Psoriasis, seborrhoisches Ekzem
ENDOKRINOLOGIE
Hypo- und hyperthyreotische Stoffwechselzustände
STOFFWECHSELERKRANKUNGEN
Übergewicht, Metabolisches Syndrom, Lipidstoffwechselstörungen (Hypercholesterin- und Hyperlipoproteinämien), Hyperurikämie, Diabetes mellitus
RHEUMATISCHER FORMENKREIS & BEWEGUNGSAPPARAT
degenerative Erkrankungen (Arthrose, Osteochondrose, Osteoporose), entzündliche Erkrankungen (Arthritiden unterschiedlicher Genese), autoimmunol. Erkrankungen (Rheumatoide Arthritis / PCP), Weichteilrheumatismus, Kollagenosen, Fibromyalgie, Mb. Bechterew
ONKOLOGIE
adjuvante Therapie und palliative Betreuung postoperativ, naturheilkundliche Begleitung zu Chemotherapien und Radiatio sowie austherapierten onkologischen Fällen
PSYCHOSOMATIK
Unkontrollierbare Streß-Reaktions-Prozesse, Angstneurosen, Essstörungen, funktionelle Schlafstörungen, depressive Verstimmungen und Episoden, funktionelle Störungen von Herz-Kreislauf, Magen-Darmtrakt, Uro-Genitaltrakt, vasomotorische Kopfschmerzen, Potenzstörungen, vegetatives Erschöpfungssyndrom

5. Haben Sie Kenntnisse über Forschungsprojekte zu Ayurveda? Wenn ja, welche?
Nach wie vor sind Forschungsprojekte nach europäischem Standard Mangelware. Als medizinischer Leiter der Ayurveda-Abteilung in der Klinik für Psychokardiologie und Asiatische Medizin am Kerckhoff-Rehazentrum Bad Nauheim setze ich mich für neue Forschungsprojekte zum Panca Karma Heilverfahren im benachbarten Max-Planck-Institut ein. Wir hoffen, somit in den nächsten Jahren einen wesentlichen Beitrag zur wissenschaftlichen Begründung dieser einzigartigen Therapie leisten zu können. Diverse Studienergebnisse aus Indien können unsere Arbeit stärken – leider ist die Erhältlichkeit dieser Protokolle seit Jahren durch die indischen Kollegen erschwert. Auch hier bemühen wir uns um einen besseren Informationsfluß mit den dortigen Universitäten.

6. Welche Möglichkeiten sehen Sie, sich weiterzubilden?
Gezielte Weiterbildungen für deutsche Ayurvedamediziner beschränken sich auf Studienreisen zu Experten einzelner Fachbereiche in Indien sowie klinischen Praktika in Deutschland. Fortbildungsveranstaltungen zu einzelnen Krankheitsbildern werden von verschiedenen Akademien angeboten – hier sollte aber stets der reale Praxishintergrund erfragt werden, um nicht ein theoretisches Seminar aus dem Lehrbuch, sondern reale Fälle aus der täglichen Arbeit am Patienten vermittelt zu bekommen.
In unserer Akademie konzentrieren wir uns in den Fortbildungen auf drei Fachbereiche:
1. Europäische Phytotherapie nach ayurvedischen Kriterien
2. Erweiterung des Panca Karma um ein sechstes Verfahren – die Tiefenschälung der Haut (das Organ, welches zu sehr vernachlässigt wird)
3. Beratungskompetenz und Steigerung der Vermittlungsfähigkeit ayurvedischen Fachwissens durch GesundheitsCoaching
Hinzu kommen Ambulatorien zum Erlangen praktischer Sicherheit in der Ayurveda-Medizin.

7. Reichen aus Ihrer Sicht die Diagnosemöglichkeiten des Ayurveda aus? Oder sollten Ihrer Ansicht nach weitere naturheilkundliche und/oder schulmedizinische Diagnosemethoden hinzugezogen werden?
Die Komplexität heutiger Krankheitsbilder erfordert eine laboratorische und bildgebende Differenzierung, um grobe Behandlungsfehler vermeiden zu können. Bleibt es jedoch alleinig bei dieser technologisierten Diagnostik, gehen wertvolle Informationen über den Menschen verloren, die insbesondere bei chronischen, funktionellen oder auch irreversiblen Störungen entscheidend sind.
Ayurvedische Methoden ersetzen weder moderne bildgebende diagnostische Maßnahmen noch chirurgische oder akutmedizinische Eingriffe sowie erforderliche Dauermedikationen.
Eines sollte dem Ayurvedamediziner bewußt werden: Ayurveda ist und bleibt in Deutschland eine Komplementärmedizin, sie ergänzt also unser bestehendes System. Wer Ayurveda als ersetzende Medizin versteht, begibt sich auf glattes Eis – sowohl dem Patienten als auch der Ärzteschaft gegenüber. Im Falle organischer Schäden ist nach eingehender Diagnostik stets der therapeutische Vorschlag der modernen Medizin zu ermitteln. Bei Bedarf ziehen wir daher Kollegen aus der schulwissenschaftlichen Medizin zu Rate, um den diagnostischen und therapeutischen Anforderungen zum Wohle des Patienten verantwortungsvoll gerecht zu werden.

8. Gibt es noch Aspekte, die Ihnen speziell wichtig sind?
Alle ernsthaften Ayurvedamediziner in Deutschland sollten sich um mehr Zusammenarbeit bemühen und weniger Angst vor Konkurrenz und Verlust entwickeln. Transparenz der therapeutischen Methoden, Dokumentation von Kasuistiken aus der Praxis mit detaillierten Behandlungsverläufen sowie konkrete laboratorische und bildgebende Differenzierungen vor und nach einem ayurvedischen Heilverfahren tragen zu mehr Vertrauen bei, sowohl bei Patienten als auch unter den Kollegen.

Ralph Steuernagel, HP
Akademie für Komplementärmedizin
Louisenstrasse 74
D - 61348 Bad Homburg
0049 - (0) 6172-684647
e-mail: info@steuernagel-akademie.de

www.ayurvedamedizin.de 


 


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